1965. Wir sind schon mitten in den 60ern und doch stehen die großen politischen und kulturellen Stürme erst bevor. In Deutschland war der Besuch der englischen Königin Elizabeth II. ein herausragendes Ereignis. Die junge Monarchin wurde in Deutschland ungemein populär.
In Frankfurt wurden im ersten Auschwitz-Prozess, angestrengt vom legendären Staatsanwalt Fritz Bauer, die Urteile gesprochen. Zwanzig Jahre hatte es gedauert. Aber auch kein Land hat seine Geschichte so umfassend und so schmerzhaft aufgearbeitet wie die Bundesrepublik Deutschland.
Bei den Auswahlbänden spiegelt sich die Zeitgeschichte wider. Ilse Aichingers Erzählungen gehören in diesen Zusammenhang und natürlich der Bildband “Juden in Deutschland”.
Die schönsten deutschen Bücher 1965 (Auswahlheft)
Bei Inhalt und Aufmachung des (1966 erstellten) Auswahlheftes für den Bücher-Jahrgang 1965 sind endlich „die 60er” ausgebrochen – noch nicht hingegen beim Inhalt.
Aber in vieler Hinsicht weht nun ein neuer Wind.
Zum ersten Mal wird der Wettbewerb von der Stiftung Buchkunst ausgerichtet und damit auf eine breitere Grundlage gestellt.
Erstmals werden Kriterien in einer ausführlichen und systematischen Form benannt – wenn auch nur vorangestellt und nicht wie in der DDR bei jeder einzelnen Entscheidung.
Das Heft hat nun ein neues, größeres Format, das es so bis 1978 behalten sollte.
Das größere Format ermöglichte auch eine, schon auf dem Titel sichtbare neue, graphische Herangehensweise an die Präsentation der einzelnen Bände. Erstmalig werden nun auch reproduzierte Doppelseiten aus den Büchern gezeigt, teils mit, teils ohne Cover. Insgesamt wirkt das Layout aber unruhig und gedrängt.
Nach wie vor wird die Belletristik oder Schöne Literatur als „Allgemeine Literatur” bezeichnet. Noch irritierender ist die neu eingeführte Titulierung von Bildbänden als „Schaubücher”.
Insgesamt wirkt die Auswahl bieder und eher den 50er Jahren verhaftet. Und dass sich alleine 9 Bände der Gestaltung von Büchern widmen (vom Satz über die Schriften bis zum Einband) und weitere 5 Bücher bibliophile Ausgaben sind, zeugt von einem gewissen Stillstand.
Ilse Aichinger: Eliza Eliza
Die Erzählungen sind typisch für den Stil der Österreicherin Ilse Aichinger, zu deren bewegender Lebensgeschichte gehört, dass sie es schaffte, ihre Mutter in Wien direkt gegenüber dem Gestapo-Hauptquartier zu verstecken. Hingegen musste sie mit ansehen, wie die geliebte Großmutter auf einem Viehwagen abtransportiert wurde.
Oberflächlich gesehen handelt es sich bei den Texten um skurrilen Nonsens, bei näherem Hinsehen vermögen die Geschichten jedoch tiefen Einblick in die Schattenseiten der menschlichen Natur zu geben.
Die kurzen Erzählungen sind bevölkert von Menschen, die besinnungslos durchs Leben irren. Die Personen befinden sich gleichwie in einem Alptraum, aus dem sie nicht erwachen. Sie tun absolut das Falsche, ja Groteske, und befinden sich in zutiefst widersinnigen Umwelt- und Lebensverhältnissen, sie agieren wie fremdgesteuert – und dennoch zweifeln sie nicht an ihrer Welt und an dem, was sie tun. Eine Allegorie auf den Nationalsozialismus und eine beißend-gnadenlose Kritik am “Common Sense”, an nie hinterfragten Alltagsroutinen und an dummem Gerede.
Das Gefühl, das beim Lesen zurückbleibt, ist tiefe Trauer.
Hübsch und solide gemachter Band, mit edlem schwarzen Vorsatz, den ich in Erstauflage druckfrisch und ungelesen ergattern konnte. Leseunfreundlicher Satzspiegel. Mitte der 60er Jahre kam es wohl auch als "modern" und besonders “kreativ” auf, ohne Absatzschaltungen zu schreiben.
Leonard Freed: Deutsche Juden heute
Der schön und edel gemachte Band enthält Berichte und viele Fotos aus dem jüdischen Gemeindeleben im Nachkriegs-Deutschland.
Die Texte sind teilweise verstörend bis erschütternd, wie die Familiengeschichte des Robert Neumann oder die Zeugnisse der in den 50er und 60er Jahren noch stark vorhandenen antisemitischen Stimmungen.
Die Fotos leben in erster Linie von ihrer dokumentarischen Bedeutung.
Ein Kölner Antiquariat mit dem lustigen Namen 5 Uhr 30 lieferte mir ein praktisch neuwertiges Exemplar dieses wichtigen Buches – allerdings zu einem dem Erhaltungszustand angemessenen Preis.
Abbildungen aus dem besprochenen Band.
Oben: Am Freitagabend, dem Abend vor dem Sabbat, zündet die Familie Kerzen an.
Rechts: der Großvater mit seinem Enkelkind in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf.
William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum
Schöne, numerierte Ausgabe der bekannten Komödie, gedruckt auf edlem, 150 g schwerem Papier. Das abgebildete Exemplar hat die Nr. 429 von 1500.
Das Druckhaus Mohn, Gütersloh, bewies mit diesem Buch mal wieder seine Spitzenstellung während der damaligen Zeit bei bibliophilen Ausgaben.
Seinen besonderen Reiz gewinnt der Band durch die kongenialen, anmutigen Zeichnungen von Gerhard Ulrich.
Der Wettbewerb in der DDR
Die schönsten Bücher der DDR 1965
Das 11. Plenum des ZK der SED hatte ganze Arbeit geleistet. Das Plenum fand im Dezember 1965 statt, die Sitzungen der Jury im Januar 1966. Auch zeitlich konnte man kaum näher an die Direktiven der Partei heranrücken, mit denen dem kulturellen Frühling der DDR der Garaus gemacht wurde.
Wie sehr die Durchführung und vor allem die Ergebnisse des Wettbewerbes auf SED-Vordermann gebracht wurden, lässt sich an vielen Einzelheiten “ablesen”.
Vorsitzender der Kommission war nun nicht mehr ein Buchkünstler wie Albert Kapr, sondern der linientreue Bruno Kaiser, Kopf der “marxistisch-leninistischen” Bibliothekswissenschaft der DDR.
Der Bericht der Jury ist diesmal deutlich kürzer als in den Jahren zuvor. Die Darstellung von internen Diskussionen fehlt gänzlich, genauso wie die in den letzten Jahrgängen ab und zu mal eingestreute, versteckte Kritik an kulturpolitischen Entscheidungen der Partei.
Die ausgewählten 43 Bücher haben eins gemein: Konformität. Bereits der erste vorgestellte Band ist typisch: “Jugendbriefe von Friedrich Engels” (womit auch ein persönliches Hobby von Bruno Kaiser vertreten war). Weiter und ebenfalls symptomatisch für die verbreitete Langeweile und ideologische Unbedenklichkeit geht es unter anderem mit der “Aufgabensammlung der höheren Mathematik”.
Technisch ist man jetzt immerhin soweit, Text und Bild auf dasselbe gestrichene Papier zu drucken, so dass man bibliographische Angaben und Illustration jeweils auf gegenüberliegende Seiten bringen kann, was überfällig war.
Ein Blick nach Österreich
Die schönsten Bücher Österreichs 1965
Österreich legte wieder einen hübschen Katalog in englischer Broschur und Querformat vor, diesmal noch aufwendiger gestaltet als in den Vorjahren.
Das Vorwort ist viel ausführlicher als sonst (was aber eine einmalige „Entgleisung” bleiben sollte) und resümiert über mehrere Seiten hinweg die Entwicklung des Wettbewerbes. Hauptsächlich wird dem Ministerium für Handel und Wiederaufbau gehuldigt, das durch seine im internationalen Vergleich einmalige Dotierung von Staatspreisen für die schönsten Bücher ganz wesentlich zu der erfreulichen Entwicklung bei der Buchproduktion beigetragen habe. „Schöne, fehlerlose handwerkliche Darstellung” sowie der Wille zu „künstlerischer Gestaltung” seien im Aufwind. Wünschenswert sei noch eine weitere Öffnung für das „Neue, Gewagte, Kühne”.
Trotz der devoten Adresse an die Regierung (ob die von der Öffentlichkeit kaum beachteten drei Geldpreise und drei Diplome wirklich die gesamte Buchproduktion eines Landes beeinflussen?) bleiben im Vergleich mit den beiden deutschen Staaten die österreichischen Anmerkungen zu Ablauf und Ergebnissen des Wettbewerbes immer am kürzesten und am sachlichsten. Die in BRD und DDR immer wieder eingestreuten rechthaberischen und belehrenden (BRD) sowie ideologisch begründeten Verdikte fehlen in Österreich gänzlich.
Von 105 eingereichten Büchern wurden 24 ausgezeichnet. Inhaltlich geht es durchaus recht vielfältig zu, wobei es noch bei einer gewissen Betulichkeit bleibt. Der ganze Themenkreis um Tradition, Geschichte und Religion spielt eine große Rolle. Skurril ist, dass sich bei den prämierten Bänden zwei fast titelgleiche Bücher finden: „Wien wie es war” und „Wien in alten Ansichten” Hinzu kommen noch die „Wiener Impressionen”.
Vilma Eckl: Wesen und Werk
Vilma Eckl (1892–1982) war eine der bekanntesten Künstlerinnen Österreichs des 20. Jahrhunderts. Beachtung fand sie auch in anderen Ländern der ehemaligen Donaumonarchie, wie auch in Italien, nur zeitweise auch in Deutschland. Sie vereinigt in ihrem Werk expressionistische als auch realistische und postimpressionistische Einflüsse.
Die heimat- und volksverbundene Künstlerin setzte hauptsächlich und sehr gekonnt Farbkreide ein und war am stärksten, wo sie dynamische Bewegungen darstellt. Da sind es Zigeunertänzerinnen, Bauern und Bäuerinnen bei der Arbeit (Vilma Eckl ging jahrzehntelang mit auf’s Feld), auch Blumen, später gelegentlich auch Akte.
Die Einführung zu dem Band schrieb der christliche Publizist und Kunsthistoriker Erich Widder (1925–2000).
Das Buch ist handwerklich und technisch vorbildlich produziert. Die eingehängten Abbildungen, viele davon in Farbe, sind in hervorragender Qualität.
...was macht die Schweiz?
Die schönsten Schweizer Bücher 1965
174 Titel (Vorjahr 198) waren eingereicht worden. Davon wurden 33 Werke (Vorjahr 29) ausgezeichnet. 25 kamen aus der deutschsprachigen Schweiz, “7 Titel aus dem welschen und ein Titel aus dem italienischsprechenden Landesteil.
Verblüffend ist, dass mehrere Bücher deshalb nicht zugelassen wurden, weil sie unter einer falschen Kategorie eingesandt worden waren.
Die besten Ergebnisse sieht die Jury bei Kunst- und Photobüchern sowie einigen der wissenschaftlichen Titel.
Weiterhin wird im Vorwort die in den 60ern ständig noch schwärende Diskussion über den Stellenwert des Schutzumschlages angerissen. Die Jury meint, dem Schutzumschlag “als einem äußerlichen, ephemeren Kleid des Buches” sei “keine entscheidende Rolle” zugewiesen. Das heißt: alleine ein missratener Umschlag kann eine Auszeichnung eines Buches nicht verhindern. Das spielte sich auf dem Markt – auch in den 60ern – sicher anders ab.
Hans Küng:
Freiheit in der Welt. Sir Thomas More.
Im Wettbewerb der Schweiz tauchten im Vergleich mit den anderen drei hier vorgestellten Länder sehr viel mehr philosophische und theologische Titel auf – wahrscheinlich repräsentativ für den gesamten Buchmarkt des Landes. Eine These wäre, dass sich hier der intellektuelle Anspruch einer calvinistisch geprägten Nation zeigt (wiewohl der vom Chronisten ausgewählte Titel von einem Katholiken geschrieben wurde).
Als Heft 1 einer neuen Schriftenreihe, herausgegeben von dem bekannten Theologen und Kirchenkritiker Hans Küng (*1928), erschien ein schmales Heft in Englischer Broschur mit Gedanken über Thomas More, verfasst von Hans Küng selbst.
Die Broschüre war begehrt, was für die obige These spricht. Die Erstauflage wurde schon in erstaunlichen 4000 Exemplaren gedruckt und bis 1970 erschienen mehrere Nachauflagen.
Das 28-seitige Heftchen ist sauber und ordentlich hergestellt, aber war es – abgesehen vom interessanten Inhalt – tatsächlich eines der schönsten Schweizer Bücher eines ganzen Jahrgangs?
Irritierend ist die Bemerkung der Jury, dass die Fußnoten die “einheitliche Wirkung” der Typographie “etwas beeinträchtigen”. Es gibt aber nur eine einzige Fußnote mit 5 Zeilen, und dies am Ende des Textes.
Hochgeladen am 30. Juli 2016; letzte Revision am 25. April 2020.
Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Antiquariat Ballon + Wurm (Auswahlhefte BRD und DDR),
Lichterfelder Antiquariat (Eliza), 5Uhr30.com (Deutsche Juden), Mephisto-Antiquariat, Willebadessen (Sommernachtstraum),
Buchhandlung Friedhuber, Weis (Eckl), Versandantiquariat Petra Gros (Küng).